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Andreas Linke          

Der Friedhofsplanet

Es war jetzt das zweite Mal, dass die Delaware diesen düster und abweisend wirkenden Planeten
umkreiste. Captain Evans sah gereizt auf den Hauptbildschirm, der fast völlig von Uräus VI eingenommen
wurde. Der Kampf gegen die Falini war lang und hart gewesen. Viel Blut war auf beiden Seiten geflossen.
Es war ein Krieg, den eigentlich keine Seite gewinnen konnte, da sie, was ihren Entwicklungsstand und die
Kampfkraft ihrer Flotten anbelangt, fast gleichwertig waren. Am Ende wusste kaum noch jemand, wofür
dieser Krieg überhaupt geführt wurde.
Erst die Erfindung eines neuartigen Antriebssystems, das dem der Falini überlegen war, brachte die
Entscheidung. Nach der Eroberung einiger eher unbedeutender Planeten des Falinisystems wurde ein
Waffenstillstand geschlossen. Der wahrscheinlich nur so lange halten würde, bis es den Technikern der
Falini gelang, irgendwie gleichzuziehen. Bis dahin bestand der Auftrag der Delaware darin, die
neugewonnenen Planeten zu untersuchen, zu denen auch Uräus VI gehörte.
Es war ein seltsamer Planet, der mit nichts vergleichbar war, was Evans während seiner gesamten Zeit bei
der Flotte gesehen hatte. Etwas höhere Schwerkraft als auf der Erde, angenehm warmes Klima und sogar
eine verträgliche, wenn auch dünne Atmosphäre. Sogar Spuren von Wasser waren vorhanden. Trotz
dieser relativ angenehmen Umweltbedingungen, war dieser Planet fast völlig tot. Das schwarze Felsgestein,
das ihn bedeckte, ermöglichte nur einigen Moosen und Flechten ein kärgliches Dasein.

Evans starrte weiter auf den Schirm, ohne wirklich wahrzunehmen, was er sah. Etwas anderes beschäftigte
ihn viel mehr. Da waren diese merkwürdigen Gemütszustände innerhalb seiner Mannschaft, die aufgetreten
waren, als sie in die Nähe dieses Planeten kamen. Zwei Besatzungsmitglieder wurden zur Zeit wegen
schwerer Depressionen auf der Krankenstation behandelt. Einige andere waren schwermütig oder
melancholisch geworden. Wieder andere schienen von Apathie befallen zu sein und starrten nur noch vor
sich hin.
Evans riss sich zusammen und straffte die Schultern. Die Vorschriften waren eindeutig. Der Planet sollte
untersucht werden, und dafür war ein mindestens dreiköpfiges Landungsteam erforderlich. Je eher sie die
Sache hinter sich brachten und hier wegkamen, desto besser. Danach konnte man weitersehen. Bevor er
die Brücke verließ, sah er über die Schulter zu seinem ängstlich dreinblickenden Navigator Hiro.
»Sie haben das Kommando.«
Das war es, was der junge Navigator befürchtet hatte. Normalerweise hätte er sich sehr geehrt gefühlt,
aber bei der gegenwärtigen Stimmung an Bord hätte er sich lieber hinter jemandem versteckt, als selber für
alles verantwortlich zu sein. Bevor Hiro auch nur die Möglichkeit bekam, den Mund aufzumachen, hatte
sich die Tür bereits geschlossen, und er blieb mit der Last der Verantwortung zurück. Die übrigen
Mitglieder der Brückenbesatzung sahen ihn stumm an. Niemand beneidete ihn im Moment um seinen Job.
Evans, der von der Brücke direkt in eine Transporterkapsel getreten war, genoss es, einen Moment allein
zu sein. Nach kurzer Überlegung wählte er eine Station auf der Anzeigetafel und die Kapsel sauste erst in
waagrechter Richtung und dann abwärts Richtung Krankenstation.

Der kleine, rundliche Dr. Chambers, der im Moment Dienst schob, hatte die Stirn in tiefe Sorgenfalten
gelegt.
»Todd, wir können nicht mehr lange so weitermachen.«
Dr. Chambers war praktisch der einzige an Bord, der den Captain mit Vornamen anredete.
»Meine Aufputschmittel und Glücklichmacher richten kaum etwas aus. Was immer hier vor sich geht,
dieses Schiff verwandelt sich allmählich in eine Irrenanstalt. Wir sollten wirklich machen, dass wir hier
wegkommen.«
»Das werden wir Dick, ich verspreche es dir. Ich bin eben dabei ein Landungsteam zusammenzustellen.
Mit etwas Glück können wir dann in ein paar Stunden durchstarten. Vielleicht gelingt es uns ja auch, da
unten die Ursache dieses Phänomens herauszufinden. Wir bleiben auf alle Fälle in Verbindung.«
»Ich wünsch dir viel Glück, Todd. Mich brächten keine zehn Pferde da runter.«
Während Evans sich auf den Weg in die Kantine machte, dachte er einen Moment daran, die Leitung des
Landungsteams einem anderen zu überlassen. Schließlich graute auch ihm vor dem schwarzen Planeten,
der eine solche Wirkung auf die Mannschaft hatte. Aber der Moment ging schnell vorbei. Schließlich war
er nicht Captain geworden, um Problemen aus dem Weg zu gehen, sondern um sie anzupacken.
In der Kantine fand er schnell seinen Wissenschaftsoffizier Jean-Marie Cartier. Der hagere Franzose
schien bereits mit dem Essen fertig zu sein, während sich sein Gegenüber, Henry Burke von der Sicherheit,
gierig über einen Teller Erbseneintopf hermachte. Natürlich war es kein wirklicher Erbseneintopf, sah ihm
aber zum Verwechseln ähnlich. Die Food-former wurden tatsächlich immer besser. Für Evans stand bis
dahin eigentlich nur fest, dass er seinen Wissenschaftsoffizier brauchen würde. Der dritte Mann fehlte ihm
bis dahin noch. Als er aber Burke so herzhaft reinhauen sah, stand seine Entscheidung fest. Jemand,
dessen Appetit so resistent gegen diese Stimmungsanomalien war, musste einfach der Richtige sein.
»Das ist jetzt schon der dritte Teller«, stöhnte Cartier.
»Ist doch schön, wenn's ihm schmeckt«, lachte Evans, der den Anblick dieser lebensbejahenden Tätigkeit
regelrecht genoss.
Evans erklärte ihnen, dass sie für das Landungsteam ausgesucht worden waren, und die beiden nickten
stumm. Cartier hatte sowieso damit gerechnet, und Burke freute sich, dass seine langweilige Bordroutine
unterbrochen wurde. Sie warteten, bis Burke aufgegessen hatte, und machten sich dann auf den Weg zu
Hanger 4, wo das kleine Shuttle wartete, dass sie für ihre Mission benützen würden.
Besondere Vorbereitungen waren bei der Beschaffenheit dieses Planeten nicht zu treffen. Die
Standardausrüstung, bestehend aus Strahlenpistole und Kommunikator würden ausreichen.
Am Hanger empfing sie Dr. Chambers.
»Ich habe hier einen Cocktail der wirksamsten Antidepressiva vorbereitet, die es überhaupt gibt.
Normalerweise müssten die Injektionen bewirken, dass ihr die ganze Zeit dümmlich grinsend vor euch
hinsummt. Aber so, wie die Dinge stehen, frage ich mich, ob sie überhaupt etwas bewirken werden.«
»Nun, wenn sie schon nichts nützen, werden sie jedenfalls auch nicht groß schaden«, stellte Evans fest und
machte seinen Arm frei. Nachdem alle ihre Injektion erhalten hatten, gab es eigentlich nichts weiter zu tun
oder zu sagen.
Als Cartier und Burke bereits in das Shuttle kletterten, sah Evans noch einen Moment in die Augen seines
Freundes Chambers. Die Besorgnis war ihm deutlich anzumerken. Beiden war klar, dass dies absolut kein
Routineauftrag war. Dann stieg auch Evans hinauf und schloss die Luke hinter sich. Der
Wissenschaftsoffizier hatte bereits die Navigationskontrollen übernommen. Evans ging zum Pilotensitz. Die
Hangartore öffneten sich, die Starterlaubnis wurde erteilt, und das Shuttle glitt hinaus in den Raum.

Sie würden nicht lange unterwegs sein, aber, so dachte sich Evans, man könnte die Zeit nutzen, um ein
wenig Hintergrundwissen zu bekommen.
»Mr. Cartier, was wissen wir eigentlich über die Falini?«
Cartier runzelte nachdenklich die Stirn.
»Erstaunlich wenig, wenn man bedenkt, wie lange wir gegen sie gekämpft haben. Haben Sie überhaupt
schon einmal einen gesehen, Captain?«
»Sie werden es kaum glauben. Ich habe tatsächlich noch nie einen von ihnen leibhaftig vor mir stehen
gesehen. Dabei habe ich sicher schon Hunderte von ihnen vom Sein ins Nichtsein befördert.
Wahrscheinlich ist es auch besser so, dass ich noch keinen von ihnen gesehen habe. So kann ich mir
vorstellen, dass sie eine Art Monster sind. Wüsste ich, dass sie wie wir sind, würde es mir wahrscheinlich
schwerer fallen, im entscheidenden Moment auf den Knopf zu drücken.«
»Tatsächlich sind sie uns sehr ähnlich, Captain. Sie sind humanoid, etwas kleiner und zierlicher als wir, aber
sie haben einen etwas größeren Kopf. Nur Haare haben sie keine. Jegliche Form von Körperbehaarung ist
ihnen vollkommen unbekannt. Das sind äußerlich gesehen schon die einzigen Unterschiede.«
Cartier zögerte einen Moment, bevor er fortfuhr.
»Unbestätigten Berichten zufolge gibt es aber doch einen großen Unterschied. Die Falini sollen wesentlich
gefühlvoller sein als wir.«
»Davon ist mir nichts bekannt. Nach dem, was ich gehört habe, stehen sie uns in Brutalität und Barberei in
nichts nach. Ich wünschte mir manchmal, es gäbe mehr Gründe, auf unsere Rasse stolz zu sein,« seufzte
Evans.
»Ich habe mich missverständlich ausgedrückt, Captain. Mit gefühlvoller meinte ich nicht liebevoller. Es
scheint aber, dass ihre Emotionen wesentlich intensiver sind als unsere. Einige behaupten, dass sie so heftig
sind wie die Strahlen kleiner Sonnen und ihre Gefühle von anderen Lebewesen aufgenommen werden.«
»Ich denke, man sollte diesen Berichten nicht zuviel Aufmerksamkeit schenken. Schließlich wurden einige
Falini von uns gefangen genommen. Mir ist nichts von derartigen ungewöhnlichen Vorfällen zu Ohren
gekommen."
»Verständlich, Captain. Die gefangenen Falini waren allesamt Soldaten, und somit vollausgewachsene
Exemplare ihrer Art. Man sagt, dass die Kinder der Falini mit ein bis zwei Jahren eine Art
Schutzmechanismus entwickeln, um ihre Emotionen abzuschirmen. Sie werden in einer Art Kinderkolonie
betreut, und zwar von besonders geschultem Personal, dass sich stündlich ablöst, weil sie sonst die
ungebremst auf sie einprasselnden Emotionen nicht verarbeiten könnten.«
»Wir müssen also davon ausgehen, dass dieser Planet von einem Haufen depressiver Säuglinge bewohnt
wird, habe ich Sie da richtig verstanden?«
Cartier war sichtlich beleidigt.
»Sir, ich habe lediglich wiedergegeben, was ich über die Falini weiß, beziehungsweise, was über sie
berichtet wird.«
»Dafür bin ich ihnen ja auch dankbar. Ich wollte sie nicht ärgern. Es passt nur alles nicht so recht ins Bild.
Im übrigen gibt es da unten auch keine Siedlungen. Sie wären von unseren Instrumenten längst erfasst
worden.«
»Auch das ist merkwürdig. Einen Planeten wie Uräus VI könnte man mit relativ geringem Aufwand
besiedeln. Statt dessen haben ihn die Falini scheinbar völlig ungenutzt gelassen.«
»Ja, das ist wirklich seltsam.«

Burke hatte bislang nichts zu der Unterhaltung beigesteuert. Teils aus Respekt vor den Ranghöheren, aber
auch weil er über die Falini absolut nichts wusste. Während Evans und Cartier mit dem Landemanöver
beschäftigt waren, stand Burke schon an der Luke. Das Shuttle setzte sanft auf der Oberfläche von Uräus
VI auf, und Evans schaltete die Triebwerke aus. Burke öffnete die Luke. Automatisch wurde die Leiter
ausgefahren. Burke kletterte rückwärts die Leiter hinunter, dicht gefolgt von den anderen beiden. Als er
unten angekommen war, blieb er abrupt stehen, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Oh, mein Gott,
was ist das denn?« Die beiden anderen mussten rechts und links von ihm die letzte Stufe von der Leiter
springen, denn Burke bewegte sich keinen Zentimeter mehr. »Oh, mein Gott«, wiederholte er immer
wieder. Und dann fand der halbverdaute Erbseneintopf den Weg zurück, den er gekommen war. Burke
hustete und würgte. Nochmal und nochmal übergab er sich, und Evans fragte sich, ob er jemals wieder
aufhören würde sich zu übergeben.
Henry Burke, der bis dahin nie einen Falini zu Gesicht bekommen hatte, machte jetzt eine wesentlich
intimere Bekanntschaft mit einem von ihnen, als er das je für möglich gehalten hätte. Er war mit seinem
rechten Fuß direkt in den Rippen eines halbverwesten Falini gelandet. Allein dieses Gefühl, mit den Fuß in
dem Brustkorb einer Leiche zu stecken, war sicherlich ausreichend, um auch den stabilsten Magen
rebellieren zu lassen. Dazu kam der Geruch. Irgendetwas zwischen Verwesung und faulen Eiern. Burkes
Fuß zuckte heftig in dem Brustkorb des Falini hin und her, wobei immer mehr Faulgase aus dem
aufgedunsenen Leib aufstiegen. Ob sein Fuß in dem Brustkorb festhing, oder ob er einfach vor Entsetzen
nicht fähig war, ihn herauszuziehen, war nicht festzustellen, denn an eine Verständigung mit Henry war im
Moment nicht zu denken.

Evans und Cartier sahen sich an. Wenn man im Nachhinein einen point of no return ausmachen wollte, die
unumkehrbare Situation, wo die schwer definierbare Trennungslinie zwischen Normalität und Irrsinn
überschritten wurde, dann war es sicherlich jetzt. Evans und Cartier nickten sich in wortloser
Übereinstimmung zu und gingen weiter. Während Burke immer noch dabei war, sich die Seele aus dem
Leib zu kotzen und mit überschnappender Stimme »Oh, mein Gott« zu schreien, entfernten sich Evans und
Cartier immer weiter von ihm, und seine Würgelaute drangen jetzt nur noch leise an ihre Ohren. Sie hätten
beide nicht erklären können, was da mit ihnen vor sich gegangen war. Irgendwie waren beide zu dem
Schluss gekommen, dass es nichts gab, was man für Henry tun konnte. Das war nicht gut, aber es war
auch kein Grund sich aufzuregen. Unter ihren Füßen knirschten und knackten die Überreste unzähliger
Falini. Glücklicherweise waren sie alle schon wesentlich länger tot als das Exemplar, an das Burke geraten
war. Manche schienen sogar uralt zu sein. Einige hatte sich dunkel verfärbt, fast schwarz, andere waren
eher gelblich, wie altes Elfenbein. Auf manchen war sogar Moos gewachsen. Einige waren noch als
vollständiges Skelett erhalten, bei anderen konnte man nur noch einzelne Knochen erkennen, aber der
größte Teil war zu einer kalkhaltigen Gesteinsschicht geworden, aus der lediglich einzelne Knochenreste
herausragten.
»Die Falini müssen diesen Planeten seit Jahrtausenden als Friedhof benutzen«, staunte Cartier.

[...]


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