© Neue Sirene™



Wu Chenjun          



Skizze nach der Natur

[...]
Unser Gespräch wandte sich allmählich dem künstlerischen Schaffen zu. In diesem Moment trat eine junge Frau
zur Tür herein, der ein kleines Mädchen mit Zöpfen hinterhertrottete. Schnellen Schrittes ging sie an uns vorbei,
auf die Theke zu.
»Ich will telefonieren.«
»Nur zu,« entgegnete das Serviermädchen träge.
Klack, klack, klack, klack, klack, klack, klack.
»Hallo, guten Tag ...«
Ich wand meinen Blick von der telefonierenden Frau ab und sagte: »Die Kunstwerke, die mir gefallen, sind die-
jenigen, die voller Überraschungen und Emotionalität stecken. Mit den Überraschungen meine ich nicht solche
der Story oder der Beschreibung, sondern unvorhergesehene Entwicklungen in Bezug auf die sinnliche Wahrneh-
mung und die Erzähltechnik. So als würde ganz unerwartet ein Lichtstrahl aus dem Werk hervorbrechen und auf
einen Außenstehenden fallen. Genauso wie wir beide jetzt in diesem kleinen Lokal sitzen und plaudern, und eigent-
lich gar nichts weiter los ist, dann aber einfach so diese junge Frau mit dem kleinen Mädchen hereingestürzt kommt,
und wir unvermittelt spüren, dass da nun etwas ist oder dass sich etwas verändert hat.«
Den Kopf zur Seite geneigt, starrte Guo Ping auf das Mädchen und die Frau am Telefon. Dann inhalierte er tief
den Rauch seiner Zigarette. Schon hatte die junge Frau ihr Gespäch beendet und aufgehängt. Das Mädchen an
der Hand, durchquerte sie wieder das Gastzimmer. Nach ihrem Weggang pendelte die Tür noch ein paar Mal hin
und her, bevor sie zur Ruhe kam. Das Serviermädchen setzte ihr Nickerchen auf dem Tresen fort, während die
vier an den Wänden angebrachten Leuchtstofflampen den Raum weiterhin in ein leicht irreales, milchfarbenes Licht
tauchten. Ich war mir unsicher, ob meine Worte bei Guo Ping angekommen waren, ja ob er mir überhaupt zugehört
hatte. Ein konfuser Ausdruck lag in seinen Augen, wahrscheinlich, weil das Bier in seinem Körper bereits Wirkung
zeigte. Doch dann hörte ich unverkennbar, wie sich zwischen seinen langsam öffnenden Lippen einige zusammen-
hanglose Silben formten:
»Überraschungen ----- Licht ----- Frauen.«
Schwankend stand er auf und ging zur Toilette, so dass ich mit der schlafenden Bedienung allein im Gastzimmer zu-
rückblieb. Ich nippte an meinem Bier und betrachtete mir dabei die Bilder an den Wänden. Nach einer Weile kam
Guo Ping frisch und munter an seinen Platz zurück.
»Aaaah!« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wirklich gemütlich hier.«
Ich hatte gerade einen kühlen Schluck Bier genommen, als Guo Ping seine zu schmalen Spalten verengten Augen mit
einem Mal weit aufriss und mich unmittelbar fixierte. Dann begann er zu erzählen, wie er vor einigen Jahren im Spät-
sommer, das neue Semester hatte gerade begonnen, mit einer Klasse von frisch an die Uni aufgenommenen Studenten
in den Süden der Provinz Anhui gefahren war, um mit ihnen Skizzen nach der Natur anzufertigen. Unglücklicherweise
jedoch fiel ihre Ankunft in einem dortigen kleinen Bergdorf gerade in die feuchte und diesige Regenzeit, so dass vor
den Fenstern ihres Quartiers ununterbrochen starke Schauer niedergingen. Der hohe, saftige grüne Bergkamm lag
zwar zum Greifen nah, doch man konnte kaum vor die Tür gehen. Der Regen schloss sie quasi den ganzen Tag in
ihren Unterkünften ein – mehreren Dutzend ganz aus Bambus konstruierten und über dem Boden schwebenden Pfahl-
bauten, die dicht nebeneinander errichtet und durch einen langen, schmalen Wandelgang miteinander verbunden waren.
So legten sie sich tagsüber aufs Ohr und veranstalteten abends Partys, auf denen sie sich bis in den nächsten Morgen
hinein amüsierten, bevor sie, begleitet vom Rauschen des Regens, wieder schlafen gingen. Ein paar Tage später machte
ein aus Shanghai kommender Trupp von Kunststudenten im gleichen Bergdorf Station. Die Unterkunft der Shanghaier
Studenten war von ihrer eigenen durch einen Fluss getrennt, aber dieser »Fluss« war in Wirklichkeit nicht viel mehr als
ein Wassergraben. Kaum hatte die neue Gruppe ihr Gepäck abgestellt, schickte sie auch schon ein kleines Voraus-
kommando zu ihnen übers Wasser, um die Lage auszukundschaften. Worauf Guo Ping die Anführerin des Shanghaier
Trupps zu Gesicht bekam: eine ehemalige Kommilitonin von ihm. Als beide an der Kunstakademie studiert hatten, war
sie zwei Klassenstufen unter ihm gewesen. Zu Treffen im erweiterten Freundeskreis waren sie damals oft gemeinsam
gegangen. Keiner von ihnen hätte gedacht, dass sie sich nun an diesem Ort wiedersehen würden. Noch dazu lag ihr
Universitätsabschluss bereits etliche Jahre zurück, so dass sie einander beinahe schon vergessen hatten. Doch sowie
sie sich jetzt erblickten, brachen sie beide gleichermaßen in laute Rufe der Überraschung aus und klopften sich ganz
zwanglos auf die Schultern. Sie legten sofort einen Zeitplan fest, an dem sich beide Gruppen vereinen und einen Tanz-
abend größeren Ausmaßes auf die Beine stellen würden. Und so traten Guo Ping und seine Studenten eines Abends
mutig dem Regen entgegen (die Schirme, die sie besaßen, konnte man an einer Hand abzählen, weshalb die meisten
von ihnen ungeschützt im Regen laufen mussten) und setzten über den Fluss zum andern Gebäude hinüber. Die Studen-
ten aus Shanghai hatten bereits für Bier gesorgt und bereiteten ihnen einen herzlichen Empfang. Sie gerieten in eine richtig
leidenschaftliche Stimmung, wie sie da so tranken und gleichzeitig im Rhythmus der Kassettenrekordermusik ihr Tanzbein
schwangen. In einem unbeobachteten Moment schlüpte Guo Ping mit seiner Kommilitonin still und heimlich in den stock-
dunklen Wandelgang hinaus, wo das laute Getrommel des Regens die Musik überlagerte und fortwährend Wassertropfen
auf ihre Arme spritzten. Gemächlich spazierten sie den Gang entlang. »Ich spürte undeutlich, dass ihr langer Rock gegen
meine Beine flatterte. Ihre Augen waren wie zwei schwarze, flügelschlagende Schmetterlinge, die, wie es mir schien, durch
mich hindurch in mein Inneres blicken konnten. Ich wusste nicht, was ich mit ihr reden sollte, und so atmete ich nur den
faszinierenden Duft ein, der von ihrem Körper ausging, was eigentlich wirklich unglaublich war, da der starke Dauerregen
bereits alles mit seinem Schimmelgeruch durchdrungen hatte.« Der aus Bambusrohren gefertigte Wandelgang knarrte unter
ihrem Gewicht, während sie sich immer weiter von den tanzenden Studenten entfernten. In einer Biegung berührten sich ihre
Hände, und dann nahmen sie sich in die Arme. Aber schnell trennten sie sich wieder voneinander. Der Regen und der ge-
wundene Gang hatten eine gewaltige, unsichtbare Schubkraft erzeugt, die sie gefühlsmäßig von der Außenwelt loslöste.
»Was wir nun erlebten, unterschied sich von unseren sonstigen Erfahrungen: Erfahrungen aus einem Lebensraum, in dem
sich so viele Menschen drängten, die Wünsche jedes einzelnen ständig am Expandieren waren und sich jeder bis zur Er-
schöpfung nur für sich selbst (und nicht etwa für die anderen) abstrampelte. In einem kurzen, flüchtigen Augenblick, in
diesem Wandelgang, diesem Bergdorf – fernab von all den anderen Menschen und inmitten des tosenden Regens – spür-
ten wir, dass es auf dieser Welt außer uns beiden nichts und niemanden gab, der über uns bestimmen konnte. Mit einem
Mal erfassten wir, was das Wesen des Menschen ausmachte. Und indem wir bis ins Innere dieser Wahrheit vordrangen,
vergaßen wir ganz und gar die Tatsache, dass wir Menschen waren, oder anders gesagt, es bestand keine Notwendigkeit
mehr, dies länger zu betonen (während wir uns normalerweise ständig selbst daran erinnerten).« In der grenzenlosen Dun-
kelheit umarmten sie sich noch einmal. Längst hatte sie der starke Regen bis auf die Haut durchnässt. »Wie zwei aus Regen
gebildete Wesen verschwammen wir ineinander. Es war eine wunderbare Erfahrung, die sich schwer mit Worten ausdrücken
lässt.«
Am Tag nach dem Fest hatte es aufgehört zu regnen, und die Studenten saßen auf der Wiese zu beiden Seiten des kleinen
Flusses und arbeiteten an ersten Naturskizzen. Hell und klar war die Landschaft nach ihrer Reinigung durch den Regen, und
der ferne, blaue Himmel wurde nur noch von den Berggipfeln verdeckt. Guo Ping und seine Kommilitonin zogen sich die
Schuhe aus und schritten durch das seichte Wasser. Eine Anzahl mittelgroßer Fische, an denen sie vorbeikamen, wich ihnen
träge aus. Es gab aber auch ein paar dreiste darunter, die ihre Füße als Leckerbissen betrachteten und mehrmals heftig nach
ihnen schnappten, was furchtbar kitzelte. Guo Ping bückte sich und stieß seine Hand mit einer plötzlichen Bewegung in den
Fluss, wodurch er hintereinander eine Reihe von Fischen herausholte, die er aber alle wieder zurück ins Wasser setzte. Seine
Kommilitonin veruchte es ihm nachzumachen. Als sie einen Fisch zu fassen kriegte, freute sie sich wer weiß wie und gluckste
vor Lachen wie ein rauschender Fluss. Ihre beiden weißen Füsse kickten gegen das Wasser, dass die Gischt nach allen
Seiten spritzte. »Es schien, als ob wir schon von klein auf in der frischen Luft dieser Bergwildnis gebadet hätten, als ob
wir hier aufgewachsen wären. Kummer und Traurigkeit waren wie weggespült.« In der regenlosen Abenddämmerung
hielten sie sich unter einem großen Baum umfasst und lauschten dem geheimnisvollen und fernen, hohlen und doch klang-
vollen Echo des Windes sowie den Gesängen der Tiere und Insekten, die kurz aus dem Bergwald auftauchten, um gleich
wieder darin zu verschwinden. Das Glück hatte von ihnen Besitz genommen – aber es war nicht mehr das Glück nach dem
wir Menschen streben, um das Elend dieser Welt zu kompensieren, sondern das reine, natürliche Glück, das wie unsere
Chromosomen vom Schicksal bestimmt ist und sich von selbst einfindet. »Unsere Exkursion dauerte einen halben Monat,
mir aber kamen diese Wochen wie mehrere Jahre vor. Danach flogen wir beide (meine Kommilitonin und ich) wie zwei
Vögel in verschiedene Richtungen fort und hörten nichts mehr voneinander. Zurück an meiner Schule dachte ich nicht länger
an sie, noch dachte ich an die Tage, die ich in Süd-Anhui verbracht hatte. Weil ich sehr beschäftigt war, fand ich einfach
keine Zeit dazu. Gleichzeitig gab es so gut wie nichts, was mein reales Leben mit ihr und Süd-Anhui verband, weshalb ich
noch weniger Lust darauf hatte, mir das Vergangene ins Gedächtnis zurückzurufen. Und wenn du mich heute nicht besucht
hättest, dann hätte ich mich wohl nach wie vor nicht an sie erinnert. Denn die Tage mit ihr sind so verschwunden, so was
von vollständig verschwunden, dass ich mittlerweile fast gar nicht mehr eindeutig sagen kann, ob ich überhaupt in Süd-Anhui
gewesen bin und ob ich je eine Kommilitonin gehabt habe, die den Männern so den Kopf verdrehen konnte.«
Guo Ping und ich verbrachten noch den ganzen restlichen Nachmittag in der Kneipe. Als wir schließlich nach draußen traten,
war es schon am Dunkeln und der Abend nahte. Am Eingangstor des Universitätsgeländes sagten wir einander auf Wieder-
sehen. Ich schwang mich aufs Fahrrad, wandte mich dann aber noch einmal um und blickte zurück: Das große Tor der Nan-
jinger Kunstakademie wirkte im Dämmerlicht noch viel höher und mächtiger. Guo Pings lange, hagere Silhouette stand unbe-
weglich darunter. Ich trat ein paar Mal kräftig in die Pedale, das Rad überwand eine ganz kleine Steigung in der Straße und
rollte dann den Hang hinab. Die Lenkstange fest umklammert, bog ich meinen Körper so weit wie möglich nach vorne, wäh-
rend ich mit beiden Füßen auf den Pedalen blieb, ohne jedoch irgendwie zu treten. Es war ein schier endloses Gefälle, und
zuletzt stellte ich mir sogar vor, dass ich in dieser Haltung bis zu mir nach Hause rollen könnte.

Aus dem Chinesischen von Frank Meinshausen


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