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Wolfgang Sréter          

Über die Welt fliegen


                                                                                                      Geschichten gehen nie verloren.
                                                                                                      Sie warten auf eine Hand,
                                                                                                      die sie heraushebt aus dem Nichts.

                                                                                                      Marica Bodrožić


Kurz vor dem Ende kamen die Toten zurück. Verlegen traten sie durch die Tür des Altenheims, standen in einer Ecke und summten. Willi sprach mit ihnen, leise, damit niemand ihn hören konnte, und zärtlich, damit sie blieben. Am Eindringlichsten mit dem alten Bialek, der sich zu ihm aufs Bett setzte. Am Ende des Lebens war das Leben wieder schön.

Manchmal allerdings brachte Willi alles durcheinander. Er wollte dann zur Hochzeit einer Schwester, die es nie gegeben hatte. Er behauptete, sie würde ihn singend im Leiterwagen über das Pflaster seiner Kindheit ziehen. An anderen Tagen war er auf der Flucht. Er packte einen Rucksack, verstaute darin eine Uhr, als müsste er die Zeit mitnehmen, und wurde auf dem Gang des Altenheims aufgehalten. »Es ist nichts, Willi. Bei uns bist du gut aufgehoben«, sagte der Pfleger und gegen die Argumente seiner starken Arme kam Willi nicht an. Tiefflieger brachen in den Gang, der Lärm des Todes stach ins Trommelfell, Frauen und Kinder wurden von Maschinengewehren umgemäht, denn es gab keine Straßengräben zu beiden Seiten des Korridors der Pflegestation.

Wenn es besonders schlimm wurde, band ihn der Pfleger ans Bett. Je mehr Willi sich wehrte, desto straffer wurden die Riemen. Das elende Bein schmerzte und am verkrüppelten Arm, an dem die Haut immer schon durchsichtig schimmerte, entzündete sich das rohe Fleisch. Noch schlimmer war es, wenn der Doktor mit der Spritze kam. Der Körper wurde vom Gift gelähmt, gab Kot und Urin von sich, aber im Kopf, unter den geschlossenen Augenlidern schlug und hämmerte es wie in einem Maschinenraum. Die Toten standen dann verschreckt neben dem Spind und wagten nicht, sich zu bewegen.

Wahrscheinlich war Willi im Kinderheim zur Welt gekommen. Wie das passieren konnte, wusste er nicht. Dort gab es schöne Minuten, wenn er Geburtstag hatte. Eine Kerze stand vor seinem Teller, Wiesenblumen bildeten einen Kranz. »Froh zu sein, bedarf es wenig und wer froh ist, ist ein König«, sangen die anderen Kinder. Willi schwebte auf seinem Stuhl von den Betreuern hochgehoben. Er flog über die Welt. Zu Beginn des Krieges wurden die Männer eingezogen und die Betreuerinnen konnten nur noch die Kleinen in den Geburtstaghimmel heben.

[...]



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