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Klaus Böldl

Bericht über Tamm
(Auszug)

Fast unser gesamtes Wissen über die Ansichten Tamms beziehen wir aus den losen Notizblättern, die man in der Schreibtischschublade eines Hotelzimmers gefunden hat. Hat man früher angenommen, Tamm habe die Blätter dort vergessen, so neigt man heute zu der Auffassung, er habe sie aus Gleichgültigkeit gegenüber seinen Gedanken dort liegengelassen. In Gesprächen hat sich Tamm zu seinen Ansichten nicht geäußert, längere Unterhaltungen vermied er geflissentlich. Die notwendigen Wortwechsel etwa mit dem Hotelpersonal oder mit Busfahrern machten jedoch deutlich, daß er sich gut in unserer Landessprache auszudrücken wußte. Lobten die Einheimischen seine Kenntnisse in unserer entlegenen und schwierigen Sprache, reagierte Tamm zurückhaltend, ja bisweilen ablehnend. Er lächelte einen Augenblick, hob die Schultern und wendete den Blick ab, als ob ihm die Sprache wie auch jegliches Sprechen nichts bedeuteten. Es war ihm kein Anliegen, etwas über die Auffassungen und Schicksale anderer Menschen in Erfahrung zu bringen. Die ausnahmslos jedem Dasein zugrundeliegende Struktur der Unentrinnbarkeit, so lesen wir, sei stellvertretend für alle anderen Wesen am eigenen Ich am deutlichsten zu studieren.
Halten wir die Aufzeichnungen Tamms neben die Vielzahl der Augenzeugenberichte, so ergibt sich ein Bild voller Widersprüche und unauflösbarer Gegensätze. Tamm behauptete von sich selbst, nur durch einen unbegreiflichen Zufall Ähnlichkeiten mit einem Exemplar der Gattung Mensch aufzuweisen. Tatsächlich habe er sich zeitlebens als eine monströse Unzugehörigkeit erlebt, die nur durch ungezählte Verstellungen zu etwas Wirklichem gerinnen konnte. Entgegen dieser Selbstcharakterisierung kann es wohl als gesichert gelten, daß Tamm damals ein knapp mittelgroßer Mann war, schlank, mit grünen Augen und auffallend kleinen Händen. Er soll stets dunkel gekleidet gewesen sein, unauffällig, allerdings etwas altmodisch.
[...]
Oft wanderte Tamm in die freie Landschaft hinein. Mitunter blickte er sich um. Menschen, die ihm begegneten, schien er kaum wahrzunehmen. Die Menschen fühlten sich durch die Gleichgültigkeit Tamms ihnen gegenüber nicht verletzt, sondern auf eine abseitige, in Worten nicht zu erklärende Art verstanden und in ihrem Innersten ernstgenommen. Tamm ließ die Menschen in Ruhe. In seiner Nähe wurde für sie das Zuviel an Worten und Gesten spürbar, das auf Ihnen lastet. Tamm hob manchmal Steine auf und betrachtete sie. Er empfand ihre Schwere und Kälte, besah sich die planlosen Äderungen, Vertiefungen, Einsprengsel. Ihm schienen sie, wie Beobachter versichern, etwas zu bedeuten. Er legte sie auf den Zentimeter genau so wieder hin, wie er sie gefunden hatte. Man geht heute davon aus, daß Tamm sich nicht berechtigt glaubte, an der Welt auch nur die geringste Veränderung vorzunehmen. Auch den leblosen Naturgegenständen gegenüber wird er sich als etwas Fremdes erlebt haben.


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