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Emine Sevgi Özdamar          

Der Spiegel im Hof

[...]
Am nächsten Morgen ging ich in verschiedene Kaufhäuser, sprach mit Verkäufern, Busfahrern, ... und fand keinen,
der mir weh tat.
Als ich nach Hause zurückkam, roch es auf den Treppen nach zwei verschiedenen Männerparfüms. Ich hörte auf der
Treppe Herrn Volkers lachen. Heute abend stieg er die Treppe nicht alleine hoch. Herr Volkers kam manchmal,
nachdem die alte Nonne ihr Zimmerlicht angemacht machte. Vielleicht lebte sie noch, und das Buch Alice im
Wunderland
hatte gerade die Wärme ihrer Finger auf den Blättern, oder vielleicht lagen ein paar ihrer Wimpern
zwischen den Seiten.
Als ich die Wohnungstür aufschloß, klingelte das Telefon. Can. Er fragte: »Hast du jemanden, der dich schlecht
behandelt hat, gefunden?«
»Keinen gefunden.«

Can dichtete:

»Ja, so ist das, sagte ich, Herr Richter
        Will Sie gar nicht länger plagen
        Sonst hätte ich noch viel zu sagen, viel schlimmer als all das
        Ich weiß ich bin schuldig, meine Strafe nehme ich an
        Weder habe ich geraubt, noch habe ich gemordet
        Jedoch etwas viel Schlimmeres habe ich getan
Wissen Sie, was, Herr Richter
        Ich liebte einfach die Menschen.«

Jetzt sag mir ein deutsches Wort.
»Sehnsucht: Sucht nach Sehnen, Can, es gibt in keiner Sprache so ein kräftiges Wort. Sucht nach Sehnen. Sehnsucht.
Weißt du, Can, meine Großmutter hatte mir in Istanbul gesagt, schau nicht in der Nacht in den Spiegel, sonst wirst du
in ein fremdes Land gehen. Damals war ich neun Jahre alt. Jetzt wohne ich nur im Spiegel. Ich spreche mit dir im
Spiegel.«
Can sagte: »Grüß die schöne Frau von mir, die du im Spiegel siehst. Was macht das Licht der alten Nonne?«
»Es ist nicht an.«

        »Die Sterne mehren sich in der Nacht, je länger du hinsiehst
        Und willst du sie Zählen, schlüpfen sie dir durch die Finger;
        Manche kannst du hören und manche hört man nicht
        Sie mehren sich so in der Nacht, je länger du hinhörst:
        Stimmen, die zu dir kommen, tönend
        Oder auf leisen Sohlen.«

Während Can mir am Telefon seine Gedichte vorlas, ging im Spiegel das Licht der alten Nonne an.
»Can, warte, warte, das Licht ist angegangen.«
Ich legte den Hörer neben das Telefon und ging zum Balkon. Das Licht der alten Nonne war wirklich an. Ich sah ein paar
Schatten.
Kurz darauf kamen die beiden Männer, die unten Fernseher reparierten, aus dem Nonnenhaus. Sie trugen einen Fernsehapparat,
schauten nach oben zu mir auf den Balkon und nickten gleichzeitig mit dem Kopf.
Ich rannte die Treppen runter. Die beiden Männer sagten, den Fernseher noch in den Armen: »Sie ist tot. Die Nonnen haben
uns das Buch Alice im Wunderland mitgegeben. Wollen Sie es haben?«
[...]


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