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Werner Heickmann          

Wenn die Eisblumen fort sind

1.

Sie waren sich aus dem Weg gegangen. Ihr kurzes Leben lang. Bernhard und Josef. Hatten Bögen
umeinander geschlagen. Immer wieder und wieder. Mal größere, mal kleinere.

Doch heute war es anders. Zum ersten Mal. Es war ein besonders kalter Wintertag. Dick eingemummt
war er. Eingemauert in Eis und Schnee. Sie putzten ihn sich von den Nasen, rieben ihn in ihre Wangen,
und dabei lachten sie vor Vergnügen.
Gemeinsam zogen sie den Schlitten den Berg hinauf. Josef, der eiligere, legte sich bäuchlings darauf,
Bernhard setzte sich auf seinen Rücken und gab mit seinen Füßen den letzten Anstoß.

Die Fahrt hinunter: viel zu kurz, eisiger Windhauch, Geruch von Sonne, schreien, lachen. Endlich einmal
glücklich lachen. Dann der Sturz. Übereinanderrollen. Schnee im Kragen, im Gesicht, in den Schuhen.
Aufspringen, sich abklopfen, wer ist zuerst auf dem Schlitten. Weiter. Ein Blick zurück auf die Stelle des
Sturzes. Das also sind ihre Abdrücke. Hier war gerade Bernhard mit seinem Bruder Josef gestürzt.
Mit niemandem sonst. Zum ersten Mal ein gemeinsames Lachen. Kostbarer als Gold. Sie lieben sich.
Bernhard ist fünf, Josef sechsundeinhalb.
Dass Bernhard am Ende dieses schönsten Tages seines Lebens auch einen seiner traurigsten erlebt haben
wird, weiß er noch nicht. Noch sind Sonne und Schnee und Glück eins.
Sie umarmen sich, sind atemlose Kinder, die das Leben genossen haben. Zum ersten Mal. Ihre Seelen
haben sich gefunden an diesem Tag. Sind verschmolzen. Nie wieder werden sie es sein. Sich nie wieder
so lieben können wie an diesem Tag, der noch nicht zu Ende ist.

Als die Sonne mahnte, schaute Bernhard verzweifelt zu ihr empor. So nicht, drohte er ihr mit seiner
Kinderfaust. Trotzig zog er noch einmal den Schlitten den Hügel hinauf. Fuhr ihn allein hinab. Zischend,
schreiend an Josef vorbei, der den Atem anhielt. So ein Bruder, dachte er stolz und rief ihm etwas zu,
das dieser nicht verstand. So ein Bruder.

Gemeinsam zogen sie den Schlitten nach Haus, klopften ihm den Schnee von den Kufen und stellten ihn
im Schuppen des Vaters unter. Drehten den großen, rostigen Schlüssel herum, wie er es ihnen beigebracht
hatte, und gingen ins Haus. Sie zogen ihre dicken Joppen aus, hängten sie an den vorgesehenen Haken in
der Küche, klopften noch einmal den letzten Schnee herunter, noch lachend.

Beide riefen: »Mama, wir sind wieder da.« Aber niemand antwortete. Sie rannten durch alle Zimmer dieses
immer stillen Hauses, riefen und schrien. Doch niemand gab Antwort, kein Echo. Sie weinten fast schon, da
blieb Josef vor dem Küchenfenster stehen. Es war mit Eisblumen zugedeckt, der Herd erloschen.
»Sie wird einkaufen sein«, sagte er und begann, mit seinen Nägeln an den Eisblumen zu kratzen.
»Ja«, sagte Bernhard abgewendet und setzte sich traurig auf den Küchenstuhl mit dem roten Kissen. Auf dem
er saß, wenn er traurig war. Und er saß oft dort.
»Nicht traurig sein«, sagte Josef und legte ihm einen Arm um die Schulter. »Nicht traurig sein.«
Sie schmiegten ihre Köpfe aneinander.
»Bin ich auch nicht«, sagte Bernhard. Er wusste, dass dies nicht stimmte, aber er sagte es immer. Immer dies:
Ich bin nicht traurig, wenn er traurig war. So weinte er leise vor sich hin. Vor sich hin und in sein unfertiges,
kindliches Leben hinein.
»Sie wird wiederkommen. Sie ist nur einkaufen.«
Sie wärmten sich ihre Herzen.
»Nicht traurig sein«, flüsterte Josef noch einmal und streichelte Bernhard über sein blondes Haar. »Schau,
was wir machen.« Er erkletterte einen Stuhl. »Schau«, sagte er noch einmal. Wandte sich zu Bernhard um.
Den Stuhl hatte er nah an das Fenster gerückt. Jetzt begann er, seinen atemlosen Atem gegen diese Scheibe
zu hauchen, zu putzen, zu kratzen. »Wenn die Eisblumen fort sind, können wir Mama sehen, wenn sie nach
Hause kommt.«
[...]


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