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Marete Pryds Helle          

Anna Livia steigt aus dem Bus aus

[...]
Anna Livia wohnt in einer Wohnung im vierten Stock, ein Stück die Frederiksberg Allee hinunter. Sie hat nicht in die Tüte
geschaut, nicht einmal im Bus, doch als sie, nachdem sie abgesperrt hat, die Schachtel herausholt, sieht sie, dass sie perfekt
zu den Dingen passt, die sie bereits hat. Sie dreht sie in den Händen, das Blütenmuster ist wie ein Gedanke, der beginnt und
nicht aufhört, sondern mit kleinen Variationen herumwirbelt. Sie betrachtet die Fensterbank in dem hellen, großen Wohnzimmer.
Die Schachtel könnte zwischen dem sandfarbenen Nefertitekopf und der Orchidee in dem staubig-blauen Topf stehen. Anna
Livia öffnet die Schachtel, um sich die blaue Farbe im Inneren anzusehen. Sie entdeckt eine kleine rosa Seidenschnur im Boden
und zieht vorsichtig daran. Der Boden hebt sich, und darunter befindet sich ein Raum, ziemlich groß, mit sieben kleinen Fächern
verschiedener Größe, und in jedem befindet sich ein Monsterkopf aus weißem oder grünem Stein, und im Mund eines jeden
Ungeheuers steckt eine kandierte Blüte, Mimose oder Veilchen, um jede Blüte ein Stückchen Gras gebunden.
Das muss japanisch sein, denkt Anna Livia. Deshalb der Preis.
Sie kann die Schachtel hervorholen und so eine raffinierte Leckerei anbieten, wenn sie das nächste Mal Gäste hat. Bis dahin
stellt sie die Schachtel in den Kühlschrank, wo sie am liebsten Lebensmittel aufbewahrt.
Normalerweise hat Anna Livia oft Gäste, doch an diesem Wochenende hat sie sowohl Freitag- als auch Samstagabend
Spätdienst und sieht keinen Menschen. Jeden Abend, wenn sie nach Hause kommt, öffnet sie den Kühlschrank, nimmt die
Schachtel heraus, öffnet sie, hebt den falschen Boden hoch und betrachtet die Ungeheuer, die jedes Mal, wenn sie sie ansieht,
den Platz zu tauschen scheinen. Mit einem Finger berührt sie vorsichtig die kandierte Blüte. Sie schließt den Boden wieder, setzt
den Deckel darauf und stellt die Schachtel in den Kühlschrank. Im Verlauf der Tage denkt sie immer öfter an die Schachtel. Die
Patienten, die sie pflegt, die Freundinnen, die sie anrufen, die Dusche, die sie morgens nimmt, scheinen immer kleiner zu werden,
so dass schließlich alles in der Schachtel Platz hat. Wenn es das ist, was sie will.
[...]


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