© Neue Sirene™



Birgit van der Leeden          

Spiegelverkehrt

[...]
In den folgenden Wochen lassen sich die Pflanzen immer noch bitten, obwohl ihnen nun nicht nur das Licht, sondern auch
die Wärme schmeichelt. Erst Mitte Mai schiebt sich der Sommer vor meine Bühne. Die Schattenseite der sommerlichen
Lichtseite.
Es ist vermutlich nur ein Zufall, dass wir uns auf der Straße begegnen. Die Nachbarn, festlich gekleidet, sind auf dem Weg
zur Abiturientenentlassungsfeier des Sohnes und laden uns, als hielte uns eine selbstverständliche Vertrautheit zusammen,
spontan für den Nachmittag ein.
Das erste Mal in dem grünen Zimmer mit den weißen Möbeln. Die Bezüge der Stühle im Joseph-Frank-Design, wie es sie
unten am Strandvägen, Stockholms Nobeladresse, zu kaufen gibt. Eigenwillige farbenstarke Muster auf weißem Untergrund.
Die schmalen weißen Holzrahmen zweier Op-art-Gemäde bilden zu dem etwas zu verbindlichen Grün der Tapete einen
sachlichen Kontrast. Der Wandleuchter hingegen ist verschnörkelter, als ich ihn mir vorgestellt habe. Ein Möbelensemble
im gustavianischen Stil verleiht dem hinteren Bereich des Raums etwas Unberührbares.
Alles in dem Haus ist eigentlich auf der falschen Seite, weil ich es andersherum denke. Bei uns liegt rechter Hand die Küche,
hier liegt sie links. Bei uns liegt linker Hand das Wohnzimmer, hier rechts.
Unbeabsichtigt werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Auf unser Haus. Bewusst und doch zufällig. Wo der englische Rasen
zu Ende ist, fängt unser Gestrüpp an, die endlos verzweigten Fäden der Himbeer- und Brombeersträucher, die in der schattigen
Lage nicht einmal üppig tragen. Viel totes Holz dazwischen.
Die dunklen Fensternischen verschweigen die IKEA-Möbel der vorvorletzten Generation. Weiter als bis zur Küchenfensterbank
kann man glücklicherweise nicht schauen. Doch schon sie macht einen behelfsmäßen Eindruck. An den Toaster, dessen Schnur
nicht bis zur nächsten Steckdose reicht, habe ich lange nicht mehr gedacht, und auf der Sodaclubmaschine, für die wir seit
Monaten keine Patrone gekauft haben, liegt Larissas Luciakrone, die verrät, dass hier mindestens seit Dezember nichts mehr
verrückt wurde. Planlos herumliegende und nicht entsorgte Gegenstände, Vorboten beginnender Verwahrlosung. Hier drüben
hingegen geht alles ohne Notbehelfe auf.
Plötzlich habe ich beim Anblick unseres zerbrechlich wirkenden Hauses Bedenken, ob es unser morgendliches Geschrei
verschweigt, wenn die Kinder erst nicht aus dem Bett und dann zur selben Zeit in das Badezimmer stürmen wollen. Mein
Geschrei, wenn ich Angst habe, dass wir den Pendelzug verpassen, der nur jede viertel Stunde fährt.
Zögernder als die anwesenden Bekannten und Freunde nehme ich mir von dem Buffet, einem der Vernichtung preisgegebenen
Kunstwerk. Platten mit Kaviareiern, Garnelenhappen, Lachspastete, Fleischbällchen und hoch aufgeschichteten Butterbrottorten,
alles zusammengehalten von Hunderten schwedischer und finnischer Flaggenspieße. Sobald sich eine Platte leert, wird sie durch
eine neue ersetzt. Eine beinahe beklemmende Üppigkeit, die nie eine Lücke des Begehrens entstehen lässt: Mama, wir müssen
auch solche Fähnchen im Essen haben, bettelt Kilian, deutsche und schwedische. Barsch weise ich seine Bitte zurück und
erschrecke über mich selbst.
[...]


Main Contents of all Issues Current Volume Digital Volumes for Download Reviews Conception Authors Photo Art Events Contact Advertizing Ordering