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Ludmilla Kulikova          

Der Irrtum

[...]
Von meinem Enkel schweift mein Blick langsam durchs Zimmer, bleibt an dem einen oder anderen Buch hängen. So,
vor den Büchern sitzend, kann ich meinen Erinnerungen stundenlang nachhängen, mir irgendetwas durch den Kopf
gehen lassen.
[...]
Ich war sieben Jahre alt. Mama arbeitete im Entwicklungsbüro, Vater im Heizwerk. Er hatte irgendwann einmal ein
geisteswissenschaftliches Studium abgeschlossen, ging jedoch nicht als Lehrer an eine Schule, sondern ins Heizwerk
als Heizer, um viel Freizeit zu haben. Ein Heizer gibt darauf acht, dass das Feuer in den Heizkesseln ständig lodert,
nicht erlischt, wirft immer wieder etwas Kohle nach, um das Feuer am Leben zu erhalten, doch in der restlichen Zeit
sitzt er da und beobachtet. Der Kessel erhitzt das Wasser in den großen Zisternen. Es beginnt zu kochen, und der
entstehende Dampf, der in einem riesigen Dampfkessel gesammelt wird, dringt durch die Rohre, welche nur knapp
unter der Erde verlaufen, in die Behausungen der Menschen, gelangt in die Heizungköper in den Wohnungen und
den Menschen wird warm. So war es zumindest früher. In der Zeit also zwischen dem Nachfüllen der Kohle im Ofen
und der Kontrolle des Drucks im Dampfkessel hatte der Heizer »Freizeit«. Während der Vater im Heizwerk arbeitete,
lernte der den Aufbau des Ofens genau kennen und baute mit eigenen Händen bei uns zu Hause einen Kamin, welcher
zum wirklichen Schmuckstück unseres Domizils wurde. »Wenn man schon kein Geld sieht, dann gibt es wenigstens
einen Nutzen von diesem Heizwerk«, stöhnte die Mutter.
[...]
Mein Vater schrieb. Er schrieb einen Roman. Er schrieb viele Jahre daran. »Dies wird ein epochales Werk«, teilte er
aufgeregt flüsternd der Mutter mit. »Ich schreibe die ganze Wahrheit!«, gab er festentschlossen mit den Brauen zuckend
bekannt. Er schrieb und schrieb an dieser besagten Wahrheit. Er arbeitete mit Selbstaufopferung, solchem Selbstverzicht
an dem Roman, mit dem man gemeinhin nur das Vaterland verteidigt. Der Roman war mein Altersgenosse. Vater schenkte
ihm alles Wichtige: seine Kraft, seine Zeit, sein Wissen, seinen Verstand und seinen Willen. Nur wenig blieb für die Mutter
übrig, und der kleinste Rest für mich. Mutter beschwerte sich. »Deinen Roman liebst du mehr als mich. Mit mir sprichst
du kaum. Immer schreibst und schreibst du. Ich bin für dich nur Dienstpersonal.« Vater mochte es nicht, wenn man ihn
in derartige Gespräche verwickelte. Folgerichtig setzte er sich Selbigen nicht lange aus und machte sich wieder ans
Schreiben.
[...]
Ich schloss mit meiner Erzählung. Manchmal scheint mir, ich erzähle die Geschichten eher mir als Maksim. »Das heißt
also, du hast seinen Roman in den Ofen geschmissen?«, unterbrach Maksim als erster die entstandene Pause.
»Genau. Vater war am Vorabend so glücklich, den Roman vollendet zu haben, dass er alle Vorsicht vergaß und das
einzige Exemplar seines Manuskripts ausgerechnet dort liegen ließ, wo er gewöhnlich die Schmierzettel zum Anfeuern
aufbewahrte. Niemand hatte mich gewarnt. Seinerseits handelt es sich um die verhängnisvolle Zerstreutheit des Künstlers.
Ein Manuskript gehört auf den Tisch, nicht auf den Fußboden, merke dir das.
Meinerseits war es ein fataler Irrtum. Ich nahm an, es seien Schmierzettel. Das Resultat, eine Tragödie.«
[...]


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